"Die Zukunft der Medizin auf dem Land ist digital, menschlich und vernetzt"
Interview aus Niedersachsen
Von der Patientenaufnahme bis zur Abrechnung ist in der "Avatar-Praxis" im niedersächsischen Scheeßel digitale Technik im Einsatz. Tanja (Innovationskoordinatorin) und Jan Gerlach (Allgemeinmediziner) sind Gründer einer hybriden Hausarztpraxis, mit der sie dem Ärztemangel auf dem Land entgegenwirken und ein Beispiel für die erfolgreiche Etablierung von digitalen Lösungen in der ambulanten Versorgung. Im Interview sprechen wir mit der Innovationskoordinatorin, Tanja Gerlach, über ihre Motivation, die Zukunft der Allgemeinmedizin und den Wandel zu einer digitalen Patientenkommunikation.

TK: Sie betreiben in Scheeßel die sogenannte "Avatarpraxis 1.0", mit der verschiedene digitale Prozesse in der medizinischen Versorgung implementiert. Was hat Sie dazu motiviert, diesen Weg zu gehen, und welche Vorteile sehen Sie für Ihre Patientinnen und Patienten in der ländlichen Region?
Tanja Gerlach: Die Motivation hinter der Gründung der "Avatarpraxis 1.0" in Scheeßel lag vor allem in der Frage, wie medizinische Versorgung auf dem Land zukunftsfähig gestaltet werden kann. Zunehmender Ärztemangel in ländlichen Regionen, eine Verweiblichung der Medizin mit 2/3 weiblichen Studierenden sowie einer Erwartungshaltung an die berufliche Flexibilität stellt eine ernsthafte Herausforderung an die ambulante Versorgung dar. Gleichzeitig steigen die Erwartungen der Patientinnen und Patienten an Erreichbarkeit, Effizienz und Service. Digitale Technologien und delegative Lösungen schließen Versorgungslücken, entlasten bestehende Strukturen und führen zu einem deutlichen Mehrwert für Patientenschaft, Ärtzeschaft und Personal.
Die Avatarpraxis ist eine hybride Lösung. Sie verbindet moderne Telemedizin mit Hands-On-Medizin von erfahrenen Ärztinnen und Ärzten. Sie schafft den Raum für neue Berufszweige wie digitale Praxismanagerin sowie Physician Assistant und nicht nur als Notlösung, sondern als integralen Bestandteil einer qualitativ hochwertigen, wohnortnahen Versorgung zu etablieren. Patientinnen und Patienten profitieren durch schnellere Termine, bessere Sprechzeiten (auch am Wochenende), bessere Erreichbarkeit durch KI-Telefonanlage sowie verbesserte Kommunikation zwischen allen Akteuren.
Gleichzeitig bleibt der menschliche Aspekt erhalten: Die digitalen Prozesse sind eine Ergänzung, die das medizinische Fachpersonal vor Ort unterstützt - nicht ersetzt. Letztlich geht es darum, die Versorgung nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern aktiv weiterzuentwickeln - auch und gerade außerhalb der großen Städte.
Die digitalen Prozesse sind eine Ergänzung, die das medizinische Fachpersonal vor Ort unterstützt - nicht ersetzt.
Tanja Gerlach
TK: Welche spezifischen Herausforderungen haben Sie bei der Implementierung digitaler Lösungen in Ihrer Praxis erlebt, und wie konnten Sie diese überwinden?
Gerlach: Sowohl das medizinische Fachpersonal als auch die Patientenschaft standen digitalen Neuerungen teilweise skeptisch gegenüber - aus Sorge vor Komplexität, Fehleranfälligkeit oder dem Verlust des persönlichen Kontakts.
Wir haben auf Transparenz und Schulung gesetzt. Das Team wurde umfassend weitergebildet, um sicher mit digitalen Tools umzugehen. Für Patientinnen und Patienten haben wir niedrigschwellige Angebote, z. B. persönliche Einführungen in die Videosprechstunde oder Unterstützung beim digitalen Check-in. Wichtig war uns, immer klar zu kommunizieren: Die Technologie ergänzt - sie ersetzt nicht.
Dies war zunächst auch bei der Ärztekammer Niedersachsen eine Hürde, durch die wir aber auch gelernt haben. Die Hybridlösung ist die beste Lösung - nicht entweder das eine oder das andere.
Der Einsatz digitaler Anwendungen im Gesundheitswesen unterliegt hohen gesetzlichen Anforderungen, insbesondere beim Datenschutz (Stichwort DSGVO) und bei der Anbindung an die Telematikinfrastruktur (TI). Wir haben frühzeitig rechtliche Expertise eingebunden und eng mit KVen und Verbänden kooperiert. Jede Lösung wurde gemeinsam mit Datenschutzbeauftragten bewertet und angepasst. Die Sicherheit der Patientendaten hat oberste Priorität und bildet die Grundlage für das Vertrauen in digitale Prozesse.
Die Einführung digitaler Lösungen erfordert mehr als Technik - es braucht Veränderungsbereitschaft, Kommunikation und einen klaren Plan. Durch den schrittweisen Aufbau, transparente Prozesse und die Einbindung aller Beteiligten konnten wir diese Herausforderungen in Chancen verwandeln - und heute sehen wir, wie positiv sich das auf die Versorgung in unserer Region auswirkt.
Die Einführung digitaler Lösungen erfordert mehr als Technik - es braucht Veränderungsbereitschaft, Kommunikation und einen klaren Plan.
TK: Wie hat sich die Beziehung zu Ihren Patientinnen und Patienten durch den Einsatz digitaler Technologien verändert? Welche Rückmeldungen erhalten Sie zu den neuen Prozessen?
Gerlach: Die Beziehung zu unseren Patientinnen und Patienten hat sich durch den Einsatz digitaler Technologien spürbar weiterentwickelt - und zwar in vielerlei Hinsicht intensiviert, nicht etwa entfremdet, wie man es zunächst vermuten könnte. Ich nenne ein paar konkrete Beispiele: Unsere Videosprechstunde reversed - also in das Sprechzimmer - schafft Home Office-Möglichkeiten für die Ärztinnen und Ärzte und ideale Versorgung der Patienten. Kommt ein Patient zu uns und möchte seinen Facharzt-Befund besprechen, kann er dies im Sprechzimmer 1 mit einem unserer Ärzte machen - er sitzt allerdings zu Hause. Wir nutzen Langzeit-EKG und Langzeit-RR auf KI-Basis, um unseren Patientinnen und Patienten schnelle und valide Ergebnisse liefern zu können. Beide Geräte tragen sich super leicht auf der Haut, sind ohne viele Kabel und beim Blutdruckgerät auch ohne Aufpumpen das erledigt das Handy. Beide Geräte sind für Wochen ausgebucht, obwohl sie noch nur als IGEl-Leistung angeboten werden können. Auch hier gilt: was sinnhaft ist, wird gern genutzt. Ähnlich verhält es sich mit unseren anderen digitalen Gadgets. Self Check-in-Terminal, Onlinebuchungen, datenschutzkonformer Chat-Messenger - für unsere Patienten sind dies alltägliche Mittel, um die ambulante Versorgung effektiver zu gestalten.
Ein häufig genannter Vorteil ist die gesteigerte Nachvollziehbarkeit: Patientinnen und Patienten sehen ihre Dokumente, Medikationspläne und Empfehlungen direkt digital ein. Das erhöht das Vertrauen und die aktive Beteiligung an der eigenen Behandlung. Besonders chronisch erkrankte Menschen profitieren davon, ihren Verlauf besser überblicken zu können. Bei uns hat jede Patientin bzw. jeder Patient eine sogenannte Mini-ePA, eine eigene App. Befunde können hoch- und heruntergeladen werden. Beispiel Labor: Nach einer Blutentnahme leiten die Mitarbeiter die Werte automatisch in einen Reiter für die Homeoffice-Ärzte weiter. Sobald die Werte vorliegen, schreiben die Ärzte den Patientinnen oder Patienten die Beurteilung in die App - und laden gleichzeitig die Blutwerte hoch. Die Patientinnen und Patienten lieben es! Jüngere und Berufstätige begrüßen die digitale Flexibilität, ältere Patientinnen und Patienten äußern sich häufig überrascht, wie unkompliziert und hilfreich die digitalen Angebote sind - sobald die erste Hemmschwelle genommen ist.
Die Digitalisierung hat das Verhältnis zu unseren Patientinnen und Patienten nicht entmenschlicht, sondern erweitert. Sie ermöglicht neue Kommunikationswege, bessere Information und oft auch mehr Nähe - auf anderen Kanälen, aber mit demselben Anspruch an Fürsorge und Qualität. Entscheidend bleibt dabei, den Menschen im Mittelpunkt zu behalten - nicht die Technik.
Die Digitalisierung hat das Verhältnis zu unseren Patientinnen und Patienten nicht entmenschlicht, sondern erweitert.
Jan Gerlach
TK: Wie sehen Sie die Zukunft der Allgemeinmedizin auf dem Land, insbesondere im Hinblick auf digitale Innovationen? Welche Trends oder Entwicklungen erwarten Sie in den nächsten Jahren? Und was haben Sie in Scheeßel noch geplant?
Gerlach: Die Zukunft der Allgemeinmedizin auf dem Land wird stark von digitalen Innovationen geprägt sein - nicht als Selbstzweck, sondern als Antwort auf ganz reale Herausforderungen: demografischer Wandel, zunehmender Ärztemangel, Versorgungsdruck und veränderte Patientenerwartungen. Hybridmodelle werden zum Standard.
KI wird zunehmend Aufgaben übernehmen, die heute Zeit und Ressourcen binden - von der Anamneseunterstützung über die Triage bis hin zur präventiven Risikoeinschätzung. Das entlastet das medizinische Personal und schafft mehr Raum für das, was nicht digitalisiert werden kann: zuhören, abwägen, begleiten.
Digitale Tools ermöglichen es Patientinnen und Patienten, aktiver an ihrer Gesundheitsversorgung teilzunehmen - etwa durch Gesundheits-Apps, eigene Vitaldaten oder digitale Tagebücher. Das führt zu besserer Therapietreue und mehr Eigenverantwortung - vorausgesetzt, die Angebote sind verständlich und niedrigschwellig gestaltet.
Digitale Tools ermöglichen es Patientinnen und Patienten, aktiver an ihrer Gesundheitsversorgung teilzunehmen.
Die Digitalisierung wird auch die Grenzen zwischen ambulanter, stationärer und pflegerischer Versorgung weiter aufweichen. In Zukunft werden Daten in Echtzeit zwischen Hausarztpraxis, Klinik, Pflege und Angehörigen fließen - mit einem Ziel: eine lückenlose, koordinierte Versorgung.
Die Avatarpraxis 1.0 ist für uns nur der Anfang. In den kommenden Jahren planen wir:
- Einführung mobiler Versorgungseinheiten, um Hausbesuche mit digitaler Diagnostik effizienter zu gestalten - AVAMOBIL
- Schaffung eines regionalen Gesundheitsnetzwerks, in dem wir uns digital mit Apotheken, Pflegeeinrichtungen und Therapeuten verknüpfen
- Ausbau der Patientenplattform, um z. B. Therapieverläufe, Medikationspläne und Befunde noch transparenter verfügbar zu machen
- Digitale Schulungsangebote für Patientinnen, Patienten und pflegende Angehörige - z. B. zu chronischen Erkrankungen oder dem sicheren Umgang mit Gesundheits-Apps
Die Zukunft der Allgemeinmedizin auf dem Land ist digital, menschlich und vernetzt. Wer heute mutig neue Wege geht, kann morgen stabile Versorgung sichern - gerade dort, wo die klassischen Strukturen an ihre Grenzen stoßen. In Scheeßel wollen wir zeigen, dass Innovation und Bodenständigkeit kein Widerspruch sind, sondern der Schlüssel für eine nachhaltige Gesundheitsversorgung.
Wer heute mutig neue Wege geht, kann morgen stabile Versorgung sichern.
TK: Welche Ratschläge würden Sie anderen Arztpraxen geben, die erwägen, digitale Prozesse einzuführen? Was sind die ersten Schritte, die sie unternehmen sollten, um erfolgreich zu sein?
Gerlach: Ein Umstieg auf digitale Prozesse ist für viele Praxen zunächst eine große Herausforderung - aber auch eine große Chance, die eigene Versorgung zukunftsfähig und effizient zu gestalten. Aus unserer Erfahrung mit der Avatarpraxis 1.0 lassen sich einige zentrale Empfehlungen ableiten:
1. Nicht alles auf einmal - sondern Schritt für Schritt
Beginnen Sie mit einem klar umrissenen Teilprojekt - z. B. der Online-Terminvergabe, einer digitalen Patientenaufnahme oder einer Videosprechstunde. Warum: Kleine, schnell umsetzbare Maßnahmen bringen erste Erfolgserlebnisse, stärken das Team und erleichtern die Akzeptanz - sowohl intern als auch bei den Patientinnen und Patienten.
2. Das gesamte Praxisteam einbinden
Digitalisierung ist kein reines IT-Projekt - es betrifft den Alltag aller Mitarbeitenden. Warum: Nur wenn MFA, Ärztinnen, Ärzte und Verwaltung die neuen Prozesse verstehen, aktiv mitgestalten und regelmäßig geschult werden, gelingt die Umsetzung nachhaltig und ohne Reibungsverluste.
3. Patienten frühzeitig mitnehmen
Kommunizieren Sie transparent, warum Sie neue digitale Wege gehen - und wie Ihre Patientinnen und Patienten davon profitieren. Warum: Besonders ältere Menschen sind oft positiv überrascht, wenn sie merken, dass digitale Angebote einfach, hilfreich und sicher sind. Bieten Sie persönliche Unterstützung beim Einstieg an - das schafft Vertrauen.
4. Datenschutz und IT-Sicherheit von Anfang an mitdenken
Arbeiten Sie mit erfahrenen Partnern und holen Sie frühzeitig fachlichen Rat (z. B. vom Datenschutzbeauftragten oder der Kassenärztlichen Vereinigung). Warum: Vertrauen ist das Fundament jeder Arzt-Patient-Beziehung - und es basiert heute auch auf dem sicheren Umgang mit sensiblen Daten.
5. Die eigene Vision nicht aus den Augen verlieren
Fragen Sie sich: Was soll Digitalisierung in unserer Praxis bewirken? Effizienz? Erreichbarkeit? Entlastung? Bessere Patientenbindung? Warum: Ein klarer Fokus hilft bei der Auswahl passender Lösungen - und schützt davor, sich in Technikdetails zu verlieren, die keinen echten Mehrwert bieten. Digitalisierung ist kein Selbstläufer - aber mit klarer Zielsetzung, offener Kommunikation und dem Mut zum Ausprobieren können Arztpraxen viel erreichen. Der wichtigste Schritt ist oft der erste: Anfangen. Und zwar nicht perfekt, sondern pragmatisch. Denn jede Verbesserung - so klein sie auch erscheinen mag - bringt uns dem Ziel näher: einer modernen, menschennahen und nachhaltigen Versorgung.
6. Uns anrufen. Wir helfen gern weiter!
Zur Person
Tanja Gerlach, geboren am 17. April 1975 in Rotenburg/Wümme, ist Innovationskoordinatorin der Avatarpraxis. Nach ihrem Abitur absolvierte sie eine Ausbildung zur Groß- und Außenhandelskauffrau in Hamburg. Anschließend studierte sie Geschichte, Politik und Amerikanistik im Magisterstudiengang an der Universität Hamburg. Zudem setzte sie ihr Studium an der Harvard University fort, wo sie sich mit Investigative Journalism, Expository Writing und American Literature beschäftigte.
Nach ihrem Studium durchlief sie ein Volontariat an der Axel-Springer-Journalistenschule und war anschließend Redakteurin beim Hamburger Abendblatt. Tanja ist seit 2004 mit Jan Gerlach verheiratet und sie haben gemeinsam sechs Kinder. In ihrer Freizeit betätigt sie sich gerne im Fitnessstudio, geht segeln und reitet.